KLAUS SCHÖNING


HÖRSPIEL - NEUES HÖRSPIEL - AKUSTISCHE KUNST - ARS ACUSTICA - ARS INTERMEDIA

 

Kurator u.a. der sieben Acustica International Festivals (1985-2000)

WDR3 HörSpielStudio - Studio Akustische Kunst

Das 1. Acustica International Festival fand unter dem programmatischen Titel Komponisten als Hörspielmacher mit zwanzig mehrmedialen Uraufführungen der Produktionen des WDR3-HörSpielStudios und einem Symposion 1985 in Köln statt. Das Festival summierte einen der wesentlichen Schwerpunkte der Zusammenarbeit der Redaktion mit internationalen Komponistinnen und Komponisten sowie Musik- und Literaturwissenschaftlern der letzten Jahre. Aufführungsorte waren die WDR-Sendesäle, die Musikhochschule Köln und der weite Platz vor dem Kölner Dom. Begleitet wurden die künstlerischen Ereignisse von einer Audiothek und der von Klaus Schöning kuratierten ersten variantenreichen, visuellen Ausstellung von Notationen und Renotationen Akustischer Kunst im Kölnischen Kunstverein.


Anmerkungen zur 1. Acustica International - Komponisten als Hörspielmacher

Vom 27. September bis 1. Oktober 1985 fand in Köln die viertätige, von Publikum und Presse viel beachtete 1. Acustica International statt. Konzipiert und organisiert wurde dieses Festival der Akustischen Kunst von Klaus Schöning WDR3-HörSpielStudio unter dem Motto Komponisten als Hörspielmacher. Co-Partner des WDR waren das Kulturamt der Stadt Köln, die Staatliche Musikhochschule und der Kölnische Kunstverein.

Eine der Absichten, die Klaus Schöning mit diesem Festival verbunden hatte, war es - außerhalb der wöchentlichen Workshop-Sendung im WDR3-HörSpielStudio - gleichsam wie in einem Focus aufmerksam zu machen auf die grenzüberschreitende Arbeit zahlreicher Komponisten als Hörspielmacher und damit verbunden auf die Veränderungen und erweiterten Möglichkeiten der akustischen Kunst.

Ansätze zu einer Entwicklung Komponisten als Hörspielmacher finden sich bereits in den zwanziger Jahren; in den fünfziger Jahren hätten sie erweitert werden können, als - außerhalb der Radiodramaturgien - zum Beispiel John Cage seine wegweisenden Tonband-Collagen und Kompositionen mit Radioapparaten realisierte, als zur selben Zeit im Radio in den Pariser Studios der ORTF Pierre Henry und Pierre Schaeffer an ihren hörspiel-verwandten Tonband-Kompositionen der musique concrète arbeiteten.

Als Mitte der sechziger Jahre zahlreiche Schriftsteller, Regisseure und Dramaturgen die akustisch/kompositorischen Möglichkeiten des HörSpiels im Radio neu definierten und entwickelten (Ernst Jandl: „HörSpiel ist ein doppelter Imperativ!“), die Gleichwertigkeit von Sprache, Musik und Geräusch in die Ästhetik der akustischen Kunst mit einbezogen und auch das Prinzip der Collage im HörSpiel einsetzten, erschien es konsequent, dass sich auch Komponisten verstärkt der vielfarbigen Offenheit und undogmatischen Ästhetik dieses Neuen Hörspiels zuwandten. Bisher hatten sie Musik für Hörspiele komponiert, sie wurden nun zu Hörspielmachern, die ihre eigenen Hörspielkonzepte als Autor/Regisseure selbst realisierten.

1969 setzte eine Entwicklung ein, die im WDR bis heute (1985) zu über 60 Realisationen internationaler Komponisten als Hörspielmacher für die Redaktion führte. Mauricio Kagel definierte: „Das Hörspiel ist weder eine musikalische noch eine literarische, sondern lediglich eine akustische Gattung unbestimmten Inhalts.“ Dieser Definition folgend realisierte er bisher zehn Hörspiele für das WDR3-HörSpielStudio. Die Konzeption der Redaktion war von Anfang an, komplementär zur Produktion von Hörspielen, auf die perspektivische Erforschung neuer Tendenzen innerhalb der akustischen Kunst angelegt.

1970 fand diese Entwicklung einen programmatischen Ausdruck in der bis heute bestehenden Reihe Komponisten als Hörspielmacher. Im selben Jahr kam es im Rahmen der Kölner Kurse für Neue Musik, geleitet von Mauricio Kagel, zum ersten Komponisten-Hörspiel-Seminar mit dem Arbeitstitel Musik als Hörspiel, einer Kooperation zwischen dem WDR-Hörspiel und der Rheinischen Musikschule. In dem mehrwöchigen Verlauf dieser Kurse lernten junge Komponisten Hörspieltheorie und -praxis kennen und produzierten drei Hörspiele, die – zu dieser Zeit noch ungewöhnlich – im WDR-Sendesaal öffentlich aufgeführt, diskutiert und gesendet wurden.

1975 führte Klaus Schöning ein weiteres Hörspiel-Seminar für Komponisten auf den Internationalen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik durch. Obschon Hörspiele von Komponisten nicht im Zentrum des Programmangebots der Sender stehen und ihre Rezeption zuweilen einige unerwartete Anforderungen an den Zuhörer stellt, haben sie die allgemeine Ästhetik und Praxis des Hörspiels als eigentlich akustischer Kunst weiter fundiert. Viele dieser Komponisten-Hörspiele sind von internationalen Radiostationen übernommen, mit Preisen ausgezeichnet und auf Festivals vorgestellt worden. In zahlreichen Sendungen wurde ihre Ästhetik analysiert.

Eine weitere Absicht dieses Festivals war es, über die Sendung hinaus, Erfahrungen zu sammeln, inwieweit es für das HörSpiel möglich ist, zum Initiator von öffentlichen Präsentationen zu werden. Die Produktion von HörSpielen wird vor einem Publikum nach draußen verlagert, visuelle Komponenten kommen hinzu, verändern die Rezeption. Das Ereignis ist jedoch ins Radio eingebunden, sei es als Live-Sendung oder als Mitschnitt für spätere Sendungen. Eine Situation, die für Konzerte der Musik im Radio gängige Praxis ist, die das HörSpiel bisher jedoch nur in Ansätzen konsequent wahrgenommen hat.

Das Hörspiel hatte jahrzehntelang in seiner schon frühen Abwendung von der darstellenden Schau-Bühne zur inneren Bühne und im einsamen (Radio-)Hören sein Selbstverständnis gefunden. Das akustische Medium Hörspiel kam also im Gegensatz zum akustischen Medium Musik ganz ohne die Sichtbarkeit von Ausführenden vor einem Publikum aus. Die Unsichtbarkeit der Darbietung übers Radio entspricht der Unsichtbarkeit des anonymen Hörers vor dem Lautsprecher. In Erinnerung gerufen seien jedoch Versuche Ende der 20er Jahre, das Hörspiel mit anderen Medien zu verbinden, die Bertolt Brecht, Paul Hindemith, Kurt Weill und der erste Intendant des WDR, Ernst Hardt unternahmen, um zum Beispiel den Lindbergh-Flug von Brecht als Konzert vor Publikum auf der Bühne aufzuführen und zu senden. Erinnert sei an die Versuche des Cineasten und Hörspielmachers Walther Ruttmann, eine Hörspiel/Filmsprache durch Montage zu entwickeln. Die allgemeine Hörspielproduktion nahm an diesen Möglichkeiten nicht teil, und so übernahmen die Filmemacher die weitere Entwicklung des HörSpiels im Film, machten den Film zum Ton-Film und das Hörspiel zum Filmton. Bis heute blieben die Möglichkeiten des HörSpielfilms, des FilmhörSpiels, in dem beide Medien gleichberechtigt und komplementär sich verbinden, nahezu ungenutzt.

Die in den letzten fünfzehn Jahren in der Reihe Komponisten als Hörspielmacher gesendeten Hörstücke sind eigenständige akustische Werke, die zum konzentrierten und auch mehrmaligen Hören anregen. Es sind jedoch diese akustisch „diffizilen musikalischen“ HörSpiele, die häufig zu mehrmedialen Aufführungen bei Festivals, in Theater-, Konzert-, Kinosälen und in Kirchen eingeladen werden. Die bisher längste Spielzeit mit über 25 Produktionen sprachmusikalischer Hörspiele veranstaltet der WDR zusammen mit der Alten Oper seit über zwei Jahren in Frankfurt. Mit dem verstärkten Interesse der Audio-Artisten, Performance-Künstler und Komponisten am HörSpiel wird eine jahrzehntelang uneingelöste Möglichkeit, die öffentliche Vorführung von HörSpielen, wieder neu belebt, reflektiert und ausprobiert.

Dass diese Versuche beim Publikum auf Interesse stoßen, machte auch die 1.Acustica International deutlich. Neben öffentlichen Lautsprecher-Konzerten hat die Redaktion in den letzten Jahren vielfältige Formen der Präsentation von HörSpielen weiterentwickelt: die HörSpiel-Performance, das Raumklang-Konzert, das Film- und Fernseh-HörSpiel, die KlangSkulptur, das HörSpiel-Ballett.

Einige Beispiele: Das Hörspiel Roaratorio. Ein irischer Circus über Finnegans Wake von John Cage zeigt in immer neuen Varianten das Transitorische seiner medialen Möglichkeiten: als HörSpiel fürs Radio und als Raumklang-Konzert über viele Lautsprecher, als Live-Performance mit John Cage und irischen Musikern, dazu seine polyphone Raumklang-Komposition vom Tonband, als HörSpielBallett, getanzt von der Merce Cunningham Dance Company bei den Festivals in Lille, Avignon und Frankfurt. HörSpiele in szenisch-musikalischer Form werden auch seit einigen Jahren in der Nachtmusik im WDR vor Publikum öffentlich vorgestellt und gleichzeitig gesendet. So etwa Mauricio Kagels Rrrrrrr …. Hörspiel über eine Radiophantasie, dazu stumm auf der Bühne agierend synchron/asynchron zur eigenen Stimme von Tonband der Schauspieler Gert Haucke. Aus diesem HörSpiel-Theater wurde später das Fernsehspiel Er von Mauricio Kagel. Ebenfalls in der Nachtmusik im WDR Vinko Globokars Hörspiel Individuum/Collectivus 13 C mal acht als Tonbandstück mit Live-Improvisationen der Musiker, und Juan Allende-Blins Rapport sonore. Relato sonoro. Klangbericht als Raumklang-HörSpiel über 16 Lautsprecher.

Die 1.Acustica International stellte so in einem konzentrierten Ausschnitt die Vielfalt dieser Entwicklungen in einem allen zugänglichen offenen Produktionsprozess vor. Eingeladen waren nahezu alle Komponisten, mit denen die Redaktion bisher gearbeitet hatte: John Cage, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel, Bill Fontana, Malcolm Goldstein, Alison Knowles, Gerhard Rühm, Juan AIlende-Blin, Henri Chopin, Clarenz Barlow, Carola Bauckholt, Hans Otte, Robert HP Platz, Pierre Henry, Tom Johnson, Charlie Morrow, Stephan Wunderlich, Peter Behrendsen, Vinko Globokar. Hinzu kamen Wissenschaftler und Autoren wie Franz Mon, Ferdinand Kriwet, Rudolf Frisius, Reinhard Döhl, Heinz-Klaus Metzger, Klaus Ramm, Michael Schäfermeyer, Jerzy Tuszewsky und Heinrich Vormweg. Sie hatten zusammen mit den Komponisten im HörSpielStudio seit Jahren in zahlreichen Sendungen das Hörspiel im Grenzbereich zwischen Musik und Literatur analysiert.

Über 20 HörSpiele wurden auf der 1.Acustica International von ihren Komponisten in einem viertägigen, von morgens bis Mitternacht ablaufenden Programm in zumeist mehrmedialen Aufführungen vorgestellt. In das Festival integriert waren fünf Forum-Veranstaltungen, in denen unter thematischen Schwerpunkten Vorträge gehalten wurden. Beginnend mit einer Spurensuche von Juan Allende-Blin zur Archäologie des Hörspiels, einem Essay von Reinhard Döhl über die Korrespondenz von Musik und Hörspiel im Radio, einem Essay von Heinz Klaus Metzger Über die Vorteile des Unsichtbaren, einem Referat von Rudolf Frisius über Hörspieltheorie und Musiktheorie und einem Vortrag von Gerhard Rühm über musiksprache – sprachmusik.  Diese Vorträge wurden ebenso wie sämtliche HörSpiel-Aufführungen mitgeschnitten und im WDR3-HörSpielStudio gesendet.

Parallel zu den Veranstaltungen hatte Klaus Schöning eine Ausstellung und Audiothek Partituren und Notationen der Ars Acustica im Kölnischen Kunstverein vom 27. September bis 6. Oktober eingerichtet. Ausgestellt wurden dort erstmals HörSpiel-Partituren: Weder Hörspieltexte noch eigentlich Partituren waren es Aufzeichnungen der Werke der Komponisten und Klangkünstler von Materialkomplexen, Fixierungen sprachlicher, akustischer oder technischer Verläufe, erfundener, kryptischer Zeichen, Zeitachsen und Tabellen: pragmatische, ganz auf die akustische Realisierung im Studio bezogene Arbeitsblätter im künstlerischen Entstehungsprozess. In einer eigens eingerichteten Audiothek waren sämtliche für das WDR3-HörSpielStudio produzierten Komponisten-HörSpiele über Kopfhörer zu hören. Die Audiothek ist auch beim Festival Inventionen’86 - Sprachen der Künste in Berlin zu Gast.

Nirgends als in der Vielfalt der HörSpiel-Notationen und -Realisationen von Komponisten wird deutlicher, wie sehr das Hörspiel heute seine Möglichkeiten, autonome akustische Kunst zu sein, erweitert hat. Nirgends wird deutlicher, wie fragmentarisch - und wie präzise - diese akustische Kunst sich schriftlich notieren lässt. Das Tonband ist gleichsam das Pergament der Notation. Notationen und Renotationen von HörSpielen können auch zu visuellen Ereignissen werden, zu visueller Kunst. (Ebenso wie die schriftlichen Beschreibungen akustischer Ereignisse des HörSpiels zu Literatur werden können.) HörSpiel fluktuierend in vielen Medien.

Gleichsam akustisch eingebettet waren die Veranstaltungen vom ersten bis zum letzten Tag in die große akustische KlangSkulptur Metropolis Köln von Bill Fontana, in der Hunderte von Geräuschen und Tönen der Stadt Köln auf dem Platz vor dem Dom live übertragen wurden. 18 Mikrophone nahmen die Geräusche des Rheins, vier Kölner Brücken, der Glocken der romanischen Kirchen, der Fußgängerzonen, des Zoos und des Hauptbahnhofs auf; über 18 Lautsprecher auf dem Domplatz wiedergegeben, entstand eine urbane Klangkomposition der Stadt Köln. Es war das längste Open-Air-Hörspiel in der Geschichte und stieß auf außerordentlichen Zuspruch der Bevölkerung. Ein lang anhaltendes Konzert, das die Domstadt selbst intonierte. Eine Stunde live gesendet wurde dieses klingende Köln auch über WDR3 am Samstagmittag, wobei eigens sechs Geläute romanischer Kirchen aktiv an der Sendung beteiligt waren. (Für 1987 bereitet die Redaktion in Köln eine erste transatlantische Ohr-Brücke über Satellit vor, die die KlangSkulpturen der beiden Städte San Francisco und Köln miteinander verbinden soll.)

Auf dem Platz vor der Kathedrale dann ein HörSpiel als Theater-Performance: Mauricio Kagel in der Rolle seines Tribun. Für einen politischen Redner, Marschklänge und Lautsprecher, für das der Komponist seinerzeit mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet worden war. „Kagel sprach den Tribun auf dem Roncalliplatz so echt, traf den Ton demagogischer Rede so genau, dass ein Passant mich verschüchtert fragte, wer denn der Redner sei und zu welcher Partei er gehöre. Behaupte noch einer, Radiokunst habe mit Wirklichkeit wenig gemein, sei ein ästhetisches Elite-(Miss)-Vergnügen.“ (Ekkehard Skoruppa, epd, 9.10.85). Am Abend im großen Sendesaal des Funkhauses stellte Gerhard Rühm erstmals als Hörspielkonzert sein ebenfalls ausgezeichnetes Werk Wald, ein deutsches Requiem, ein dokumentarisches Stück über das Waldsterben, vor, „das den hörer zu eigener stellungnahme provozieren will“ (G. Rühm). Danach zwei HörSpiel-Uraufführungen als Live-Performances: Die Fluxus-Künstlerin Alison Knowles mit Papier-Wetter und Malcolm Goldstein mit The edges of sound within. Beispiele der Performance-Kunst und der Minimal Art, die insbesondere in den USA entwickelt wurden und seit einiger Zeit eine produktive wechselwirkende Verbindung mit den Aktivitäten des WDR3-HörSpielStudios eingegangen sind.

Im zweiten Teil des Abends, in einer Raumklang-Aufführung über acht Lautsprecher Muoyce (Music + Joyce). John Cage intonierte flüsternd seinen laut-poetischen, meditativen Text, begleitet von mehreren Tonband Einspielungen des Muoyce Textes mit seiner Stimme und den zehn Donnerschlägen aus Finnegans Wake von James Joyce. Konsequente Überführung des flüsterndes Sprechens bis an die Grenzen des Schweigens. „Sounds are only bubbles on the surface of silence.“ Kontrapunkt zum lautfarbigen Roaratorio. „Silence sometimes can be very loud.“ Muoyce und Roaratorio: zwei unterschiedliche Aspekte ein und derselben Erfahrung.

Die Matinee am Sonntagvormittag mit zwei Live-Performances und zwei HörSpiel-Tonband- Vorführungen: Henri Chopin eröffnete mit einem artikulatorischen Audio-Poem: der Poesie sonore, der  Lautpoesie, die sich spontan vermittelt. Auflösung der Sprachen in Lautsprache wie bei John Cage, Malcolm Goldstein, Henri Chopin. Überführung in eine allen verständliche Sprache. Utopischer Entwurf der Künste  in vielen medialen Artikulationen dieses Jahrhunderts. 

Verlust der Sprache als Regression, als schmerzlicher Verlust von Sprache in: Muttersprachlos von Juan Allende-Blin: eine dokumentarische Komposition über das Schicksal einer jüdischen Schriftstellerin. In seinem Traumgesang reagierte Charly Morrow vor dem Mikrophon mit seiner Stimme spontan auf das Gehörte. Ebenfalls eine Uraufführung: Die gestohlenen Klänge, ein satirisches HörSpiel auf den aktuellen Musikbetrieb von Vinko Globokar. Das Thema der gestohlenen Klänge setzte Vinko Globokar am Abend fort mit der Uraufführung seiner musik-theatralischen Performance Konsequenz der Konsequenz. Das übergreifende Thema Hörspiel in vielen Medien, das das gesamte Festival in unterschiedlichen Facetten charakterisierte, wurde auch in den anderen Beiträgen weiter ausgeführt.

John Cage trug sein für die 1. Acustica International geschriebenes Mesostichon h2 WDR vor. Dieter Schnebel, der in den letzten Jahren zwei HörSpiele realisiert hatte, intonierte gleichsam als akustischen Keim eines neuen Projektes seine artikulatorischen An-Sätze für Selbst- und Mitlaute. Mediale Varianten einer künstlerischen Idee veranschaulichte die simultane Präsentation von zwei Werken Mauricio Kagels: einem HörSpiel und einem Fernsehspiel. Reaktionen eines Hörers auf das Musikprogrammangebot des Radios. Während das HörSpiel Rrrrrrr … Hörspiel über eine Radiophantasie über WDR 3 gesendet wurde, war das Fernsehspiel Er von Mauricio Kagel, dessen Soundtrack das HörSpiel bildete, im WDR-Sendesaal zu sehen und zu hören. Im Anschluss daran stellte Stephan Wunderlich sein mit dem diesjährigen Karl-Sczuka-Preis ausgezeichnetes WDR-Hörstück Tagesproduktion vor.

Am Abend die Uraufführung eines weiteren audio-visuellen Werkes: der HörSpielfilm La Ville /Die Stadt - Metropolis Paris/Berlin. Pierre Henry hatte seine Klangkomposition über Paris (WDR 1984) mit einem dokumentarischen Montagefilm (1927) von Walther Ruttmann über das Berlin der zwanziger Jahre für die 1.Acustica International „synchronisiert“. Er führte dieses „Film-Konzert“, wie er es nannte, über acht Lautsprecher vor. Erstmals als Raumklang-Kompositionen über mehrere Lautsprecher zu hören waren die beiden Hörspiele Requiem von Robert HP Platz und CCU von Clarenz Barlow, eine polyphone Metropolis-Klangkomposition über Kalkutta.

Die Veranstaltungen am vierten Tag fanden in der Musikhochschule Köln statt. Mauricio Kagel stellte anhand von Tonbeispielen spezifische Aspekte seiner umfangreichen Hörspielarbeit vor. Die Hörspiel-Aktivitäten in Universitäten, Schulen und der Musikhochschule Köln, sowie die Rezeption der akustischen Kunst im Spiegel der Presse wurden in Arbeitsberichten und Referaten vergegenwärtigt. Konkrete Ergebnisse junger Komponisten mit dem Hörspiel waren in einem anschließenden Tonband-Konzert zu hören. Am Abend dann in einer Live-Sendung das HörSpiel-Klavierkonzert von und mit Gerhard Rühm Kleine Geschichte der Zivilisation, „das keiner worte bedarf, dessen ,geschichte‘ in der konfrontation von musik und geräusch unmittelbar sinnfällig wird“ (G. Rühm). Daran anschließend zum ersten Mal in Köln als Raumklangereignis über 42 Lautsprecher das Roaratorio von und mit John Cage. Er sprach und sang seinen mesostischen Finnegans Wake-Text, begleitet von zwei irischen Musikern und der Einspielung seiner roaratorischen Klangkomposition aus über zweitausend Geräuschen. (Eine „Sternstunde“, schrieb eine Kritik.) Diese akustische Kosmogonie aus menschlichen Stimmen, Geräuschen, Naturlauten und Musik leitete gleichsam das Finale der 1.Acustica International ein, die am darauf folgenden Tag ausklang in der urbanen KlangSkulptur Metropolis Köln auf dem Platz vor der Kathedrale.

Die Verteilung der einzelnen Events auf wechselnde verschiedene Plätze und Räume, der Wechsel der Präsentationsformen von Raumklang-Konzerten zu KlangSkulpturen, von Live-Sendungen zu HörSpielfilmen, von Performances zu Vorträgen, der Wechsel von drinnen und draußen, folgte einer offenen Dramaturgie, die „die Radiokunst in Bewegung“ zeigte. Jede Veranstaltung war eingebunden in den inszenierten Zusammenhang eines vier Tage dauernden Ereignisses, an dem das Publikum -  als Ganzes oder in einzelnen autonomen Teilen teilnehmen konnte. Ein multipler Erlebniszusammenhang, in dem künstlerische Praxis und Reflektion eine Einheit bildeten. Ein Symposion, ein gastliches Treffen, das einlud mit offenen Augen zu hören.

Ein scheinbares Paradox wurde evident: Hörspiel als autonomes akustisches Werk fürs Radio und gleichzeitig initiatorischer Teil eines mehrmedialen künstlerischen Ereignisses. HörSpiel in selbstbewusstem Dialog - nicht in provinzieller Ausgrenzung - zu den sich im Fließen befindlichen Prozessen einer allgemeinen künstlerischen Entwicklung. Radio als motorischer kultureller Faktor. Das Festival hat in seinen grenzüberschreitenden Fragestellungen und seinem experimentierenden Charakter Anregungen gegeben für ein erweitertes Selbstverständnis von Hörspielmachern und denen, die HörSpiele machen lassen. Eine der weitereichenden Konsequenzen für die Arbeit des HörSpielStudios ist der von Klaus Schöning konzipierte mit dem neuen Preis Acustica International verbundene Produktionswettbewerb des WDR zur Förderung der akustischen Kunst auf internationaler Ebene.

Resonanzen: „Radiokunst hat in diesem Jahr ihr Medium erstmals publikumswirksam verlassen. Es gibt Anzeichen dafür, dass dem Hörspielfreund um die Zukunft der akustischen Kunst nicht bange sein muss.“ (Süddeutsche Zeitung, 3.1.86)

„Das Hörspiel sprengt das Radio. Seitdem sich jenseits des traditionellen literarischen Hörspiels eine akustische Kunst entwickelt hat, in der Sprache, Geräusch und Musik gleichberechtigt nebeneinander stehen, haben Komponisten radiophone Ausdrucksmittel benutzt und das Hörspiel durch Berührungen mit Tanz, Theater oder Live-Musik zu einer Performance-Kunst erweitert.“ (Kölnische Rundschau, 30.9.85)

„Für manche überraschend: das Publikum strömte hinein.… Es war an der Zeit, einmal die formsprengenden, gattungsübergreifenden Innovationen des Komponisten-Hörspiels, das in erheblichem Maß die Ästhetik der Radiokunst mitbestimmt, in seiner Vielfalt gebündelt vorzustellen. … Dass dabei noch immer Hörspiel- und Konzertgewohnheit erschüttert und das Kunstverständnis von Zeitgenossen strapaziert werden kann, spricht nicht gegen, sondern für die Experimente. … ein Auswärtsspiel für das Hörspiel, ein Umweg über den Ausnahmezustand ,Festival‘, einer, der die vielfältigen Präsentationsformen rechtfertigte, der nicht zuletzt auch dem Hörspiel im Medium zugute kommen kann. … Ein lohnender Versuch, den Dialog um das Hörspiel aus den heiligen Rundfunkhallen in eine unmittelbarere Öffentlichkeit zu tragen. ,Ein Anfang‘, so Mauricio Kagel, ,– Fortsetzung folgt.‘“ (Evangelischer Pressedienst, Kirche und Rundfunk, 9.10.85)

„Ein ungelöstes Rätsel, wie man ein Neues Hörspiel, welches bislang ein intimes Hörerlebnis beabsichtigte, auf die Bühne zu bringen habe. Die Sprache als Bedeutungsträger zu eliminieren wäre der falsche Weg des Neuen Hörspiels.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.10.85)

„Da das traditionelle Hörspiel von der Sprache her definiert ist, empfinden wir Sprache hörspielgerechter als bloße Klänge. Definiert sich das Hörspiel durch seinen Sprachanteil? Nein. Es definiert sich überhaupt nicht.“ (MusikTexte. Zeitschrift für Neue Musik, Oktober 85)

„Die Performances waren konstitutives Element dieses Festivals; die Ausweitung der Hörerfahrung vom einsamen Lautsprecherhören zum Erleben der Produktion durch den Komponisten vor Auditorium war mithin, soweit man das auch von sich weisen mag, auch eine mediendidaktische Maßnahme. Es waren in den meisten Fällen Anstiftungen zum Hör-Spielen. Man wünscht sich solche Anstiftungen noch in weiteren Festivals, in einer Fortsetzung mit einer 2. Acustica International.“ (Funk-Korrespondenz, 4.10.85)

„Ein Festival, das Zuhörer in wachsender Zahl anzog. Morgens, mittags oder abends - die Säle waren meist ausgebucht. Die Gründe: noch nie sind - von John Cage bis Gerhard Rühm, von Mauricio Kagel bis Pierre Henry, von Alison Knowles bis Juan Allende-Blin - so viele Komponisten, die Hörspiele machen, zusammengekommen. Und wohl noch nie ist der ,Reichtum der akustischen Kunst‘ ... so vielseitig und so animierend an einem Ort hörbar geworden … Im Hörspiel geschieht noch immer vieles von dem, was in den vielfältigen künstlerischen Bemühungen tatsächlich in die Zukunft weist. So jedenfalls demonstrierte es die 1. Acustica International.“ (Heinrich Vormweg in seinem WDR-Kommentar zur 1. Acustica International und in der Süddeutschen Zeitung, 10.10.85).

Blättert man weiter in den zahlreichen Pressemeldungen und Kritiken und hört die Sendungen, die über dieses Festival berichteten, so ist der Tenor überaus freundlich. Zuweilen stellt sich Verwunderung darüber ein, dass gerade diese „experimentelle“ Form des HörSpiels, die eine internationale Tendenz verdeutlicht, auf eine so breite Resonanz stoßen konnte. Dies mag jenen zu denken geben, die dem HörSpiel als akustischer Kunst, in Unkenntnis seiner Vitalität und unberechenbaren Kreativität für die Zukunft nur wenig Chancen einräumen möchten.

John Cage, der 73jährige Senior des Festivals, dessen Schaffen ein einziger Hinweis ist auf den Reichtum der akustischen Kunst, hatte in seinem Poem für die 1. Acustica International h2 WDR im letzten Satz einen Slogan einer US-Radiostation zitiert. Dieser könnte wie eine Aufforderung der Komponisten als Hörspielmacher verstanden werden, nicht nur an die Hörer, sondern auch an die Programmacher des Radios: „You give us twenty-two minutes we'll give you the world.“


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Das 2. Acustica International Festival des Studios, veranstaltet zusammen mit zwei Goethe-Instituten, fand 1990 mit fünfzehn amerikanischen und deutschen Komponisten und fünfundzwanzig Live-Performances von WDR-Produktionen an drei Abenden im Equitable Center des Whitney Museums, New York statt. Eingeleitet von der mehrwöchigen Klangraum-Installation American Art at WDR mit zahlreichen Produktionen des Studios in der renommierten Video Gallery des Museums, sowie einer Panel Diskussion zum gleichen Thema im Equitable Center  Auditorium.

In Montreal fand das Festival mit kanadischen und den deutschen Künstlern und ihren Performances seine Fortsetzung.


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Das 3. Acustica International Festival wurde 1994 innerhalb der MusikTriennale in Köln zum Thema Der Klang des Jahrhunderts mit intermedialen Performances veranstaltet: dem Hörkabinett Klangreise in die Akustische Kunst mit 150 Werken des Studios, einer Nonstop-Audio- und Video-Präsentation, sowie open-air auf dem Roncalliplatz vor dem Kölner Dom das audiovisuelle Film-Lautprecherkonzert: La ville. Die Stadt. Metropolis Berlin–Paris von Pierre Henry/Walter Ruttmann. Das bimediale Werk, eine Symbiose des Hörspiels La Ville. Die Stadt Metropolis Paris von Pierre Henry und des Stummfilms Berlin. Die Sinfonie der Großstadt von Walter Ruttmann, wurde von Pierre Henry in Köln 1985 anlässlich des 1. Acustica International Festivals im Grossen Sendesaal des WDR uraufgeführt.


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Das 4. Acustica International Festival entsprach 1996 einer Einladung der Europäischen Kulturhauptstadt Kopenhagen. In Köln lag der Akzent der zahlreichen Live-Events und Performances in der Gestaltung von Innenräumen. In Kopenhagen außen auf sechzehn open-air CitySoundscapes des Studios an acht von Klaus Schöning ausgewählten urbanen Örtlichkeiten der dänischen Metropole. Parallel dazu waren in Roskilde/Dänemark im Museum für Intermediale Kunst sechs Monate lang eine Lydrejse/Klangreise mit 100 Werken des Studios in einem Klangkabinett zu hören, sowie einer die Arbeit des Studios Akustische Kunst dokumentierenden Ausstellung. Über zweitausend Menschen besuchten diese Installation.


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Das umfängliche Festival 5. Acustica International 1997, war erneut als eigenständiger Beitrag in die MusikTriennale Köln integriert. Dem Themenschwerpunkt Der Klang dieses Jahrhunderts entsprechend stellte das Studio Akustische Kunst sechs Uraufführungen vor, darunter ein spatiales U-Bahn-Tunnelkonzert von Bill Fontana. In einem Klangraum wurde in einer Retrospektive die Entwicklung der jahrzehntelangen, vielfältigen Aktivitäten des Studios in einer Klang-Video- und Foto-Ausstellung und einem umfassenden Buchkatalog seines bisherigen Repertoires dokumentiert, außerdem wurden der HörFilm La Ville. Die Stadt Metropolis Paris-Berlin und der WDR/3SAT-Film Akustische Kunst oder die Welt hörend sehen vorgestellt. Das Festival wurde begleitet von dem zweitägigen Symposion Akustische Kunst: Medienkunst mit internationalen Künstlern und Medien-Wissenschaftlern.


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Das 6. Acustica International Festival fand 1999 ebenfalls in Köln statt und hatte intermediale Begegnungen mit Performances zum Thema: Akustische Kunst trifft: Film, Video, Tanz, sowie einer weiteren Verleihung des Prix Ars Acustica des WDR.


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Das 7. Acustica International Festival, (zugleich das letzte) fand im Jahr 2000 mit Performances und Installationen in zwei Metropolen in Köln und San Francisco statt: In Köln anlässlich der MusikTriennale 2000 zum Thema Die menschlichte Stimme in den Sendesälen des WDR und einem Argentinischen Abend mit argentinischen Komponisten in der Trinitatiskirche in Köln: Live Electronic Uraufführungen und Tanz, sowie open-air die Metropolis-Installation Akustische Visionen von Venedig im Museum für Angewandte Kunst, außerdem das Hörkabinett Stimmen/Voices mit über 60 Werken aus dem umfangreichen Stimmen-Repertoire des Studios.

In San Francisco auf Einladung des Goethe-Instituts an zwei Abenden unter dem Titel Ars Acustica International: Performances Aufführungen im Yerba Buena Center for the Arts und den Dolby Laboratories, zudem eine mehrwöchige Raumklang-Installation mit Produktionen des Studios Akustische Kunst im Museum of Modern Art von San Fransisco.




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